Jürgen Haerlin macht sich Gedanken über die Begleitung trauernder Familien

Jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im November macht sich Jürgen Haerlin von der Tabaluga Kinderstiftung Gedanken über die Begleitung trauernder Familien im Sternstunden-Haus.

Das heilpädagogische Reiten erweist sich für die seelische Entwicklung der Kinder als sehr wirksam. (© Foto: Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe gGmbH )

Es gibt die unterschiedlichsten Lebenssituationen, die wir in unserem Kinder- und Familienprojekt Sternstunden-Haus begleiten. Stellvertretend möchte ich folgenden tragischen Fall einer jungen Familie schildern. 

Es war eines Abends kurz vor Weihnachten, als eine 34-jährige Mutter über so starke Kopfschmerzen klagte, dass ihr Mann den ärztlichen Notdienst ruft. Dieser verordnete Schmerzmittel, die aber nicht halfen, sodass der ärztliche Notdienst ein zweites Mal zu Hilfe gerufen und eine weitere Medikation verordnet wurde. Nachdem ihr Mann die zweieinhalbjährigen Zwillinge zu Bett brachte und ins Wohnzimmer zurückkam, fand er seine am Boden liegende Frau bewusstlos vor. Der eilig herbeigerufene Notarzt war nach Schilderung des Ehemannes lange vor Ort, um das Leben der jungen Frau zu retten. Sie verstarb jedoch noch auf dem Weg in die Klinik.

Der plötzliche Tod einer jungen Mutter von zwei kleinen Kindern hat tiefgreifende emotionale, psychologische und praktische Folgen für die gesamte Familie. Die Hinterbliebenen – insbesondere die Kinder und der Ehemann – sind  mit Verlust, intensiver Trauer, Verwirrung und völlig veränderten Lebensumständen konfrontiert. Eine therapeutische Begleitung kann hier von entscheidender Bedeutung sein. Der Ehemann steht vor der doppelten Aufgabe, den Verlust seiner Partnerin zu bewältigen und gleichzeitig für die Kinder da zu sein. Diese Überlastung  führt häufig zu Erschöpfung und emotionalen Krisen. 

Die Aufenthalte im Sternstunden-Haus beinhalten neben der wichtigen emotionalen Begleitung eine Rundum-Versorgung in Form von schön gestalteten gemeinsamen Mahlzeiten, Ausflügen in die Umgebung und eine grundlegende Entlastung der Eltern von den Alltagspflichten (© Foto: Tabaluga Kinder- und Jugendhilfe gGmbH)

Unser Angebot im Sternstunden-Haus kann dazu beitragen, die eigene Trauer zuzulassen, seine Emotionen zu verstehen und zu verarbeiten, die Rolle als alleiniger Elternteil zu stärken und den Umgang mit den Kindern zu reflektieren, die nach dem Tod eines Elternteils mehr Nähe und Stabilität suchen, andererseits aber auch oft Phasen des Rückzugs durchleben und emotional vereinsamen.

Die Aufenthalte in unserem Sternstunden-Haus beinhalten neben der wichtigen emotionalen Begleitung eine Rundum-Versorgung in Form von schön gestalteten gemeinsamen Mahlzeiten, Ausflügen in die Umgebung und eine grundlegende Entlastung der Eltern von den Alltagspflichten. Der junge Vater berichtet gegen Ende des Aufenthaltes, dass er seine Kinder neu erlebt, ihre Bedürfnisse viel mehr wahrnimmt und Freude empfindet, auf sie zu antworten.

In der therapeutischen Begleitung ist es uns wichtig, einen geschützten Raum für alle Emotionen zu schaffen. Akzeptanz und Wertfreiheit, von Trauer und Wut bis hin zu Schuldgefühlen oder Verzweiflung – wechselnde Gefühle werden wohlwollend begleitet. Es gibt keine Erwartungen oder Vergleiche. Oft dauert es eine Weile, bis Trauernde überhaupt in der Lage sind, offen über ihre Gefühle zu sprechen. Offene Fragen können hierbei hilfreich sein, wie „Was beschäftigt Sie im Moment am meisten?“ oder „Was würde Ihnen jetzt am meisten helfen?“

Das Angebot im Sternstunden-Haus kann dazu beitragen, die eigene Trauer zuzulassen und seine Emotionen zu verstehen und zu verarbeiten (© Foto: Tabaluga Kinderstiftung)

Nicht zuletzt ist uns in unserer Arbeit im Sternstunden-Haus der Aspekt der Selbstfürsorge wichtig. Selbstfürsorge nach dem Tod eines nahen Angehörigen ist von zentraler Bedeutung, um den Trauerprozess überhaupt zu bewältigen und langfristig wieder Stabilität und Lebensfreude zu finden. Manche Menschen finden es hilfreich, dem verstorbenen Angehörigen zu schreiben, was ihnen noch auf dem Herzen liegt.

Entspannungsübungen oder Atemtechniken vor dem Schlafengehen können helfen, auch bei Schlafproblemen einen besseren Schlaf zu finden. Selbstfürsorge ist ein Weg, den Verlust schrittweise zu integrieren und die eigenen Ressourcen zu stärken.

Jeder Trauerprozess hat seinen einzigartigen Verlauf, ist individuell und es gibt keinen „richtigen“ oder „falschen“ Weg. Eine gesicherte Erkenntnis unserer Arbeit im Sternstunden-Haus ist, dass der Austausch unter gleich Betroffenen in der Regel sehr stärkend wirkt. Das Gefühl von Gemeinschaft und Verständnis wird als besonders wohltuend empfunden und kann ein wichtiger Baustein sein, schließlich wieder mehr Stabilität und Freude im eigenen Alltag zu finden.

Dr. Jürgen Haerlin ist Gründer und Vorstandsvorsitzender der Tabaluga Kinderstiftung (© Foto: Tabaluga Kinderstiftung)

Meldung erstellt am: 16. Oktober 2024